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Mikis Wesensbitter führt ein Gespräch mit Céline Baron

Schamanismus weckt im Kopf Bilder wie Schwitzhütte, Knochentänze und Indianerfedern im Haar. Wie findest du dich darin wieder?

Ich fühle mich gleichzeitig nah und fern davon.  
Lass mich ein paar Beispiele nennen. Sie werden Dir meine Meinung darüber widerspiegeln.

Wenn es um traditionellen Schamanismus geht, — so komisch Knochentänze und Indianerfedern auch erstmal klingen mögen, ergeben diese Bilder in dem Zusammenhang einen Sinn. Daher werden sie natürlich in der Psyche genauso weitertransportiert.
Ich fange mit der Schwitzhütte an. Sie repräsentiert einen der wichtigsten zeremoniellen Orte für Heilung. Und dieser Ort stellt unseren Kosmos dar. Dort kreuzen sich die vier Himmelsrichtungen und die vier Elemente - die großen Lehrer der Schamanen. Kein Wunder also, dass die Schwitzhütte eine zentrale Rolle spielt. Trotzdem leite ich keine Schwitzhüttenzeremonien.
Zu den Knochentänzen und Indianerfedern im Haar: Du kennst doch diese Schwarzweiß-Fotos, auf denen alte Schamanen in ihrem traditionellen Kostüm abgebildet sind. Hier sehen wir sie: Die berühmten Federn, Knochen, Krallen, Zähne, Fell- und Metallstücke, Bronzespiegel, Symbole aller Art und noch so viel anderes, dass ich es nicht alles aufzählen kann. So soll es auch sein. Diese Hilfsmittel repräsentieren die Helfer des Schamanen, und ich persönlich finde es wunderschön festzustellen, dass sie unzählig sind. Favoriten kann man sich aber aussuchen.
Ganz konkret, wenn du eine Adlerfeder hast, lädst du den Geist des Adlers ein. Diese Feder verkörpert  ̶- um einen anderen Wortschatz zu verwenden — die Eigenschaften des Adlers: Seine Fähigkeit, Strukturen zu erkennen, schnell auf Details zu zoomen, Abstand zu einer Situation zu bewahren, unemotional zu handeln. Folgendes Gesetz herrscht: Ein Teil des Ganzen ruft das Ganze. Wenn also der Schamane seine „Knochentänze“ anfängt, wenn er beginnt, zu beten, sich zu bewegen, ruft er im wahrsten Sinn des Wortes seine Helfer. Ohne sie kann der Schamane nicht arbeiten. Sie sind diejenigen, die ihn führen und in den anderen Welten die Orientierung geben.

Ich weiß, weil ich es erleben durfte, dass diese Hilfsmittel sehr kraftvoll sein können. Ich habe erfahren, wie laut der Ruf des Metalls ist, wie stark die Haare eines Bären Rituale unterstützen, oder wie magisch eine Rabenfeder wirken kann.

Wie sieht aber meine Realität aus? Ich bin ein Stadtmensch, sogar ein Großstadtmensch. Ich komme aus Paris, lebe in Berlin. Ich wohne nicht gerade in Sibirien oder in Nordamerika. Ich pflege hier kein inniges Verhältnis zur Natur. Ich schöpfe daraus so gut wie gar nichts. Meine Umgebung ist die Stadt. Mein Vokabular, meine Gewohnheiten, meine Art zu leben sind die eines Menschen im 21. Jahrhundert (ob das gut ist, sei dahingestellt). Ich will es aber nicht vergessen. Ich darf es nicht vergessen. Ich wäre mir selbst weltfremd. Und so attraktiv diese Bilder unserer Psyche auch sein mögen, entsprechen sie doch nicht unbedingt unserem Alltag. Sie sind eine Inspirationsquelle. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt darin, aus dem uralten Wissen zu schöpfen und es zu übersetzen. Dann teile ich mein angeeignetes Wissen und lehre es. Abenteuerlich soll es schon sein. Aber, ich sorge dafür, verstanden zu werden. Ich erzähle über Konzepte, ich integriere sie und benötige dazu nicht unbedingt  — oder nicht systematisch — eine Repräsentation davon. Du siehst schon: Ich bin kein Fetischist.

 

Kinder sind für Spiritualität noch sehr empfänglich. Schule und der Alltag als Erwachsener sorgen dann mit ihrer Rationalität dafür, dass diese Spiritualität verschwindet. Wie war das bei dir? 

Ich war noch Kind, als ich mich zum ersten Mal gefragt habe, ob es Gott gibt. Wie du dir vorstellen kannst, habe ich die natürlichste Reaktion der Welt gehabt: Ich bin zu meinen Eltern gegangen und habe sie dazu befragt. Die Antwort war kurz und klar. „Es gibt Kriege. Aus dem Grund sterben Menschen. Es kann also keinen Gott geben“. Du ahnst es schon. Meine Eltern waren alles andere als gläubig und gaben mir mit ihrer Weltauffassung eine für ein Kind sehr logische und rationale Antwort. Das Thema war für ein paar Jahre kein Thema mehr.
Die Zeit verging. Ich war Teenager. Mit meiner Vorliebe für die Bücher tauchten wieder die großen metaphysischen Fragen auf. Ich liebte Literatur, vor allem unseren französischen Surrealismus und das Theater des Absurden. Eines Tages hielt ich in den Händen den einzigen Roman, den der Dramatiker Eugène Ionesco geschrieben hat, „Der Einzelgänger“, und soweit ich mich erinnere, fragte sich der Held, ob es zwischen ihm und dem Stuhl, zwischen ihm und dem Tisch, zwischen ihm und einem Mitmenschen etwas gab, etwas, das er so leicht nicht wahrnehmen konnte. Ich folgte einigen seiner Gedankengänge über den Himmel, das Universum und was darüber noch zu entdecken wäre. Wie soll ich das sagen? Es war der Startschuss. Von dem Moment an haben mich diese Fragen beschäftigt — nicht unentwegt, nein. Aber sie waren irgendwo da im Hintergrund. Sie haben gewartet... und ich habe Literatur studiert.

 

Könnte man deine Arbeit also als „Großstadt-Schamanismus“ bezeichnen, der sich an Menschen richtet, die Wege suchen, um ihren Platz in den (neuen) Strukturen des modernen Lebens zu finden?

Ja! Wie du siehst, ist meine Antwort kurz und bündig. Mit dem „Großstadt-Schamanismus“ erfinde ich nichts Neues. Andere haben es schon langem vor mir definiert und sich da erkannt. Ich gehe davon aus, dass diese Menschen eine ähnliche Intention haben oder hatten: archaische Techniken in der Gegenwart umsetzen. Was mich betrifft, denke ich unter anderem an Trancearbeiten und an die Durchführung von Ritualen. Die schamanischen Praktiken haben sich über Jahrhunderte bewährt und werden deshalb heute immer noch angewandt. Außerdem macht sie deren Umsetzung im Hier und Jetzt noch lebendiger. In meinen Augen sind diese Techniken zeitlos und so auch zeitgemäß.
Wofür wende ich sie an? Hauptsächlich, um Menschen zu begleiten, die auf der Suche nach ihrem Potential, nach ihrer Kraft, nach ihrem Platz in unserer modernen Gesellschaft sind. Für diejenigen, die Fragen haben und gern Antworten darauf erhalten. Für diejenigen, deren Neugier und Entdeckungslust gestillt werden wollen. Spielerisch und leicht. Meine Herangehensweise ist nur einer von vielen möglichen Wegen, das Leben anders zu entdecken. Was ich zeige, sind Möglichkeiten. Und Möglichkeiten sollten nicht einengen, sondern den Horizont erweitern.

 

Funktionieren deine Workshops nach dem Lehrer-Schüler-Prinzip, oder ist es eher ein Erfahrungsaustausch, in den sich alle Teilnehmer einbringen können?

Ob meine Workshops nach dem Lehrer-Schüler-Prinzip funktionieren? Im gewissen Sinne ja, wenn auch der grundsätzliche Unterschied zu diesem Prinzip erstens darin besteht, dass meine Arbeit als Einladung und nicht als Pflichtveranstaltung verstanden werden soll und zweitens darin, dass ich keine von allen anerkannten Wahrheiten lehre, sondern mögliche Weltanschauungen präsentiere.
Aber ich komme zurück zu deiner Frage. Inwiefern entsteht eine Lehrer-Schüler-Beziehung?
Ganz selbstverständlich vielleicht, weil ich eine gewisse Arbeitsstruktur vorgebe, mich für einen bestimmten Arbeitsrahmen entscheide und das Gros des Wissens in dem Moment vermittle. Ich gestalte die Abläufe. So wird wenig Platz dem Zufall überlassen. Ich weiß, wo wir uns zusammen — Lehrer und Schüler — hinbewegen. Im Zentrum meiner Lehre stehen die Fragestellung, die Zeit, der Raum, das Entfalten des Eigenpotentials, das Verstärken der eigenen Kraft, die möglichen heilenden Bewegungen. Und so groß wie die Liebe zum Erforschen und Entdecken sein kann, genauso sicher und entspannt soll das Experimentieren sein. Es obliegt meiner Verantwortung, dafür zu sorgen.
Wenn der Rahmen festgelegt ist, entstehen von allein viele Freiräume und auch Bewegungsfreiheit. Es klingt widersprüchlich, nachdem ich beschrieben habe, wie strukturiert ich an die Arbeit gehe, ist es aber nicht. Ab dem Moment, wo der Rahmen steht, werde ich zur Begleiterin. Ich spiele zwar noch eine Rolle, aber nicht „die“ Rolle. Jeder Schüler macht seine eigenen und ganz individuellen Erfahrungen. Wer will, berichtet davon und tauscht das Erlebte mit den anderen aus. Es gibt keine alleinige Wahrheit, sondern unterschiedliche Weltansichten. Wenn es zum Beispiel um die Trance-Arbeit geht, wer soll entscheiden, was richtig oder falsch ist? Wer soll sagen, ob das, was der andere gesehen hat, existiert oder nicht? Jeder wird dazu eingeladen, seine ganz persönliche Wahrnehmung mitzuteilen. Das stellt für mich die Bereicherung schlechthin dar. Ich lerne dazu, ich werde inspiriert, ich werde auch zur Schülerin, und das Prinzip de Lehrer-Schüler verschwindet plötzlich.

 

Dem Klischee entsprechend müssten ja im Schamanismus Grün und Schwarz dominieren. Ist das so? Oder gibt es keine Farbe, die herrscht, sondern alle Farbtöne sind erlaubt und haben ihre Berechtigung?

Du verwirrst mich mit der Frage. Ich muss zugeben, dass ich nicht wusste, dass die Farben Schwarz und Grün herrschen sollen.
Im Schamanismus wie in vielen anderen Praktiken kannst du sehr unterschiedliche Lebensbereiche angehen. Daher ist es unvorstellbar, dass sich die Palette auf zwei Farben einschränken lässt.
Trotzdem arbeite ich nach einem Modell, das von sechs Farben definiert ist. Es sind Grundfarben, die aber noch alle anderen Nuancen zulassen oder, besser gesagt, beinhalten.
Das Modell ist das Rad der vier Himmelsrichtungen, auch Medizinrad genannt. Es dient einerseits als Landkarte und gibt wie ein Kompass eine Orientierung. Andererseits bezeichnet es die Zyklen — dass es sich um die Tages-, Jahres-, Lebenszyklen oder weitere handelt. Das Rad besteht aus vier Vierteln, und da komme ich auf die Farben. Das Gelbe steht für den Osten, das Rote für den Süden, das Schwarze für den Westen und das Weiße für den Norden. In der Mitte ist ein grüner Innenkreis gezeichnet, der die Erde repräsentiert, und am Rand ist ein blauer Außenkreis, der für den Himmel steht. Mein Lehrer Daan van Kampenhout hat dieses Rad und seine vier Grundfarben von seinem Lehrer, dem Lakota-Medizinmann Wallace Black Elck, übernommen. Der Innen- und Außenkreis sind ihm im Traum erschienen. So hat er also das Rad an seine Arbeit angepasst. Je nach Stamm kann das Rad mit ganz anderen Farben versehen sein. Jeder hat sein Modell und seine Traditionen. Nichts ist besser, nichts ist schlechter, es ist nur unterschiedlich. Ich habe auf natürliche Art und Weise das Modell von Daan übernommen.
Was aber vielleicht zuerst nur ein zweidimensionaler Kreis mit sechs Farben zu sein scheint, ist für diejenigen, die eine jahrelange Praxis damit pflegen, die konkrete Repräsentation, das Dasein der vier großen Lehrer: Die vier Himmelsrichtungen, von Himmel und Erde unterstützt. Im jedem Teil des Rades steht wieder ein Rad und wieder ein Rad und wieder ein Rad. Unendliches Bild und mit zahlreichen Farbnuanzen also, die sich miteinander mischen... 

 

Wir haben dem Schamanismus nun Farben gegeben. Aber wie klingt er? Gibt es eine bestimmte Musikrichtung, oder ist auch das eine ganz individuelle Sache? Ich stelle mir einen Mann mit langem grauem Pferdeschwanz vor, der auf die Trommel schlägt und dazu tanzt. Ehrlich gesagt, mag ich dieses Bild nicht. Wie geht es dir, und welche Töne hörst du?

Was spielen die Klänge für eine Rolle? Wie nehme ich sie wahr?
Am Anfang ist die Stimme. Sie ist das Instrument, das einen Weg öffnet und die Richtung vorgibt. Worte und Töne bringen meine Intention zum Ausdruck. Melodisch kann es sein, poetisch kann es sein und auch tierisch, urig, verwirrend. Je nachdem. Es gibt Musikaufnahmen, in denen du manchmal hörst, wie die Schamanen mit ihren Helfern kommunizieren, und wie sie dann wie ihre Krafttiere schreien. Du hörst, wie auf der oft aus Pferdefell gebauten Trommel geschlagen wird. Sie symbolisiert das Pferd, das der Schamane reitet, wenn er sich auf Reisen begibt. Die Trommel ist eindeutig das Transportmittel. An dem Punkt schätze ich das Bild des langhaarigen alten Mannes, der spielt, tanzt und unterwegs ist und auch die große Trommel, die er bedienen muss. In dem Fall lasse ich auch die Welt der Klänge und Töne einfach ihre Wirkung bei mir entfalten.
Auch wenn es theatralisch wirken mag, erfüllen diese „Inszenierungen“ ganz spezifische Zwecke. Ich gebe dir ein weiteres Beispiel. Die traditionellen schamanischen Kostüme sind häufig mit unterschiedlichen metallischen Teilen versehen. Einige Elemente sollen die bösen Geister fern halten, andere stehen wiederum als Einladung für unterstützende Helfer da. Diese vielen metallischen Klänge ergeben eine ganz eigene und einzigartige Musik. Schutzgebete oder Gesänge wurden beim Schmieden der glühend roten Metallteile laut gesprochen. Als der Schamane und der Schmied zusammen die Metallteile in das kalte Wasser tauchten, wurden die Gebete darin „versiegelt“. Es scheint also eine individuelle und ritualisierte Gesangs- und Musikrichtung zu geben, die wiederum allgemeingültig sein, feststehen und weitergegeben werden kann.
Wie du schon siehst, ist meine Antwort auf deine Frage, ob es eine bestimmte Musikrichtung gibt, nicht kategorisch. Ist die Welt der Klänge und Töne nicht wie die der Farben so vielseitig – auch im schamanischen Zusammenhang? Ich würde mir verbieten, sie auf eine Richtung zu reduzieren. Ich persönlich lasse die Musik zu mir kommen. Wenn sie da ist — nicht immer, muss ich sagen — singe ich sie, und wenn nicht, dann nicht. Es soll kein Zwang entstehen.

 

Kommen wir zu einem ganz anderen Aspekt. Ist Schamanismus eigentlich erotisch?

Was heißt „eigentlich“? Ja sicher, vieles ist möglich. Lass uns mal kurz an die Wurzeln gehen. Nach der griechischen Mythologie gehört Eros zu den Urgöttern. Aus dem Nichts geboren, hat er weder Mutter noch Vater, er repräsentiert die Einheit. Er ist der Ursprung aller Dinge, er integriert und vereint gegensätzliche Prinzipien.
Wenn ich nun eine der zentralen Ideen des Schamanismus betrachte, sehe ich die Integration unserer vielseitigen Aspekte. Eros und Schamanismus treffen sich an dem Punkt. Stell dir ein Ritual vor, in dem es um deine Lebensenergie, um deine Schaffenskraft, um dich als vollständigen Menschen geht. Stell dir vor, dass es um deine männliche und weibliche Seite geht, wie du zu denen in Verbindung stehst, wie du ihre Potentialität in deinem Leben erfährst. Ist das nicht erotisch? Einigen wir uns auf die Tatsache, dass Schamanismus ganz sicher sinnlich ist, höchstwahrscheinlich erotisch sein kann und sogar sexuell, wenn er dem Leben sehr nah sein will.

 

Ist der Schamanismus in all seinen Facetten eigentlich ernst, oder gibt es auch Aspekte, in denen Humor erlaubt ist?

Drei Punkte bezüglich des Humors möchte ich erwähnen, um Deine Frage zu beantworten.
Erstens kann behauptet werden, dass Humor kulturell ist, und dass er unterschiedlichen sozialen Zwecken dient. Ich will hier aber spezifisch über den Humor reden, der in schweren Lebenssituationen eingesetzt wird. Er soll Menschen ermöglichen, Abstand zu ihren eigenen Erlebnissen zu gewinnen. Dieser Aspekt kann wirklich die schamanische Arbeit unterstützen und Leichtigkeit reinbringen.
Zweitens ist wissenschaftlich anerkannt, dass der Humor und seine unmittelbare Wirkung — das Lachen — die Gesundheit positiv beeinflussen. Dabei sollen sich die Muskeln entspannen, die Stresshormone reduziert, das Immunsystem gestärkt und Schmerzen gelindert werden.
Warum sollte dann der Humor nicht als Aspekt zur Stärkung und Heilung beitragen? Es ist eine bewusste Entscheidung, ihn einzusetzen oder nicht. Dementsprechend würde ich behaupten, dass es beim Humor vielmehr auf den Schamanen als auf den Schamanismus ankommt.
Es fehlt noch der dritte Punkt. Den hätte ich beinahe vergessen.
Drittens ist Humor eine Gabe und als Gabe ist er nicht jedem Schamanen gegeben...

Fortsetzung folgt…

 

 

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